Hongkong, eine Stadt, die Respekt verdient. Vgl. 香港: 一座值得尊重的城市 (marcopoloproject.org). Von Wei Yingjie 魏英杰.
Übersetzung:
Wenn man Hongkongs Harbour City verlässt, dann findet man direkt am Hafen einige westliche Restaurants. Bei einer schönen Meeresbrise draußen zu sitzen und auf die schöne Szenerie der Victoria Bay zu blicken, ist ein wahrer Genuss. An meinem ersten Tag in Hongkong war ich ziemlich müde und bin zufällig in eines dieser Restaurants gegangen und blieb dort eine gute Stunde. Ausserhalb des Restaurants gab es einen Winkel, wo die Leute rauchten. Hin und wieder gingen dort junge Frauen und Männer hin, die nach ihrer Kleidung zu urteilen Kaufhausangestellte waren. In Grüppchen von zwei oder drei bliesen sie Rauchwolken in die Luft, einige nahmen nur ein paar Züge, drückten die Zigarette wieder aus und gingen. Dort standen auch Kellner und plauderten mit ihren Stammgästen. Als es dunkel wurde, kam einer heraus, der aussah wie der Chef, und räumte Stühle und Tische auf die Terrasse, um den Abendbetrieb vorzubereiten. Nicht weit entfernt kreuzte die Star Ferry in der Bucht, nicht zu schnell und nicht zu langsam, ruhig und gesetzt wie der Satz einer Symphonie. Das war eine Alltagsszene in Hongkong. Anfang Juni ist es dort schwül und heiß, dennoch geht alles seinen geregelten Gang. Alles verläuft nach einer festen Ordnung. Obwohl ich nach diesen paar Tagen nicht von einem tiefen Verständnis sprechen kann, so habe ich doch oft den Charakter dieser Stadt gespürt. Wenn man nach dem Weg fragt, sieht derjenige einen nicht nur flüchtig von der Seite an und geht dann, mit sich selbst beschäftigt, weiter. Selbst Bürger, die kein Hochchinesisch sprechen, erklären einem mit Engelsgeduld den Weg. Im Restaurant hört man oft: „Das, was Sie bestellt haben, ist ausreichend“. In einem Teehaus war einmal der Kellnerin ganz schwindelig, weil am Tisch alle durcheinander gesprochen haben, und verkündete kurzerhand: „Die Tagessuppe brauchen Sie nicht zu bestellen, die ist gratis.“ Und in Hongkongs Bussen werden die Haltestellen nicht ausgerufen, aber wenn man dem Fahrer Bescheid gibt, dann erinnert er einen. Eine Freundin erzählte mir, ein Busfahrer habe ihr nicht nur gesagt, dies sei ihre Haltestelle, sondern er habe mit dem Bus gewartet, bis sie die Straße überquert hatte. In Hongkong gibt es viele ältere Taxifahrer, einige sind schon über siebzig. Und auch die Wachleute von Hotels und Bürogebäuden sind alle älter. Ist es der Regierung etwa egal, dass so alte Menschen noch mühsam Geld verdienen müssen? Das war damals mein erster Gedanke. Natürlich ist es der Regierung nicht egal. Hongkong zahlt seinen alten Menschen jedes Jahr einen Zuschuss für ihren Lebensunterhalt, und es gibt auch noch andere Vergünstigungen. Aber ein Teil der Alten in Hongkong bezieht keine Rente. Und die finanzielle Unterstützung der Regierung ist angesichts der hohen Lebenskosten in Hongkong nur ein Tropfen auf den heißen Stein, auch das ist Fakt. Fragt man aber Senioren, dann sehen sie nichts Anrüchiges darin, dass alte Menschen noch arbeiten, um sich so durchzuschlagen. Für sie ist die Sache ganz klar, einfach ein wenig für die Altersversorgung verdienen oder die familiären Lasten etwas verringern. Das unterscheidet sich gravierend von der Vorstellung einiger, die Regierung müsse sich um alles kümmern. Aber gerade das belegt die ehrgeizige Einstellung dieser Stadt. In Honkong spürt man, dass jeder hart arbeitet, um sich durch eigene Anstrengung ein schönes Leben zu verdienen. Und man spürt ganz klar, dass das nicht heisst, dass man für den Erfolg sogar über Leichen geht, sondern man hat sich streng an die Gesetze und an die grundlegenden ethischen Standards zu halten. Mit anderen Worten kann sich das Individuum innerhalb des von Gesetz und Moral zugeteilten Raums frei entfalten. Natürlich ist es nicht so, dass die Hongkonger keine Sorgen und Probleme hätten. Z.B. bedienen die Kaufhausangestellten ihre Kunden aus dem chinesischen Hinterland zwar herzlich, aber einige sehen sie auch schräg an. Das offenbart wahrscheinlich eine widersprüchliche Psychologie. Auf der einen Seite begrüssen sie das Geschäft, das die chinesischen Touristen mitbringen. Auf der anderen Seite gehen ihnen das Verhalten und die Manieren eines Teils dieser Touristen auf die Nerven. So ist es z.B. in Hongkong Sitte, auf der Rolltreppe links zu gehen und rechts zu stehen. Das ist eine zivilisierte Angewohnheit. Heute aber ist diese Sitte kaum mehr aufrechtzuerhalten. In der U-Bahn sieht man oft Menschen, die einfach da stehen, wo sie wollen oder sich vordrängeln. Dieses Phänomen kommt womöglich noch in anderen Aspekten zum Ausdruck, zum Ärger der Hongkonger. Positiv betrachtet jedoch bedeutet die Flut der als Touristen und Käufer nach Hongkong kommenden Chinesen nicht nur einen wirtschaftlichen Beitrag, sondern sie haben für die Hongkonger auch einen Lerneffekt mitgebracht. Letzten Endes sind es doch nur wenige chinesische Touristen, die sich nicht an die Regeln halten. Die meisten trauen sich nicht, einfach so zu rauchen oder zu spucken, wenn es ihnen gerade passt. Und sie stellen sich wohlerzogen in die Schlange. Die Hongkonger haben allen Grund, sich darüber zu freuen. An jenem Tag als wir über diese Probleme sprachen, sagte mir ein Freund, der in Hongkong arbeitet: „Hongkong ist eine normale Gesellschaft.“ Für mich ist eine sogenannte normale Gesellschaft eine, in der man Dinge tut und in der man sich kümmert, also eine rechtsstaatliche Gesellschaft. Was mir aber noch wichtiger ist zu erwähnen: Hongkong ist eine Stadt, die auf ihre Würde achtet. Ihre Menschen sind ehrgeizig, halten sich an die Gesetze und Bestimmungen, achten die öffentliche Moral und halten an der Gerechtigkeit fest. In dieser Stadt streben die Menschen nach ihrem persönlichen Erfolg, anstatt sich über alles und jedes zu beschweren. Sie streben nach ihrem individuellen Nutzen und vergessen dabei das Gemeinwohl nicht. Sie streben nach individuellem Genuss, doch nicht auf Kosten anderer. Die Stadt setzt sich zusammen aus einzelnen Individuen. Nur wenn jeder ein Leben in Würde führen kann, ist die Stadt vital. Die Stadt stellt jedem Einzelnen einen freien Spielraum, was ihr zu ihrem Charme verholfen hat. Zahlreiche Details belegen, dass Hongkong eine Stadt ist, die Respekt verdient.