Erzählung des Miao-Volkes. Notiert von Dang Jiao. Aus dem Chinesischen übertragen von Jessica Mayer.
In einem Dorf der Miao lebten zwei alte Eheleute, Gaoque und seine Frau Weiniao. Sie zählten bereits über vierzig Jahre, als sie ein Töchterchen bekamen. Das liebten sie über alle Maßen und gaben ihm den Namen Banggao. Ach, Banggao! Sie wuchs zu einem aufgeweckten und geschickten Mädchen heran, konnte spinnen und sticken wie keine zweite. Von den jungen Männern gab es keinen, der sich ihr nicht gern genähert hätte, doch für Banggao kam keiner in Frage.
Denn insgeheim hatte sie sich in Maosha, einen jungen Wildschweinjäger verliebt. Er war ein stattlicher Bursche, der ganz allein einen Tiger erschlagen hatte. Eines Tages war er mit seinem Vater in den Wald gegangen, um Schweine zu jagen, da sprang plötzlich aus dem Gebüsch ein wilder Tiger hervor und stieß den Vater zu Boden. Maosha packte sein Messer und nahm mit dem Tiger den Kampf auf, und am Ende befreite er den Vater aus den Fängen des Tigers. Der Vater aber hatte schwere Wunden davongetragen und starb bald darauf. Nun ging der Bursche mutterseelenallein mit seinem Jagdhund auf Wanderschaft, um Wildschweine zu jagen. Ruhelos zog er von einem Berg zum nächsten.
Eines Tages kam er in ein Dorf, in dem zwei Duzend Familien lebten. Zu seiner Verwunderung erblickte er hier nichts als Rinder, Ziegen und anderes Vieh, doch keine einzige Ente und nicht ein einziges Huhn. Die Dörfler erzählten ihm, es gebe hier zwei große Adler, die keine Ente und kein Huhn verschonten. Diese Adler hätten sich in Dämonen verwandelt. Keiner vermöge es, sie zu vertreiben.
Maosha sagte: „Ist da wirklich nichts zu machen? Ich will einmal sehen.“ Er nahm Pfeil und Bogen und liess sich von einem Dorfbewohner unter die Felswand führen, wo die Adler-Geister wohnten. Sie waren ausgeflogen, schnell wie Pfeile und mit Flügeln, die sich so groß entfalteten wie die Matten zum Trocknen der Ernte. Aber gleich wie groß sie waren, gleich wie schnell sie auf- und abflogen, sie entkamen nicht Maoshas treffsicheren Pfeilen. Er stand da, ruhig wie ein Fels, und schoss sie einen nach dem anderen vom Himmel. Die Dörfler waren voller Freude und dankten dem mutigen jungen Wildschweinjäger, der sich auf eine so hohe Kunst verstand.
Es traf sich, dass sich dies gerade in Banggaos Dorf zutrug. Als sie den jungen stattlichen Wildschweinjäger sah, war sie ihm in tiefer Liebe zugetan. Doch Maosha war einer, der überall und nirgends zu Hause war. Kaum hatte er zwei Tage verweilt, als er schon wieder aufbrach. Wie hätte er auch wissen können, dass ihn solch ein schönes Mädchen heimlich liebte? Banggao kam nicht mehr dazu, ihm ihre Liebe zu gestehen, er war schon aufgebrochen. Doch ihre Liebe begleitete ihn auf allen seinen Wegen.
Die junge Frau wurde von Tag zu Tag schöner, doch jeder junge Bewerber holte sich bei ihr eine Abfuhr..
Wie es das Sprichwort sagt: „Die bösen Dämonen neiden es den Menschen, wenn ihnen etwas Gutes widerfährt“. Auch die junge und schöne Banggao entging nicht der Aufmerksamkeit der Dämonen. Ein weißer Fasanen-Dämon warf sein Auge auf sie, von dem man nicht wusste, woher er gekommen war. Er wusste, dass es unmöglich war, ihr Herz zu erobern, so ersann er ein Gift, das sie mit Gewalt bezwingen sollte. Als Banggao eines Tages niederkniete und Blumen pflückte, da wurde sie plötzlich ohnmächtig, und ein heftiger Windstoß trug sie fort. Ihre Eltern erstarrten vor Schreck ob dieses plötzlichen Unheils und weinten sich die Augen aus. Im ganzen Dorf gab es keinen, der darüber nicht bestürzt war, und sie suchten und suchten, doch von Banggao keine Spur.
Doch zurück zu Maosha. Der folgte den Spuren wilder Tiere, überwand viele unbekannte Berge und durchwanderte Täler und Wälder, die noch nie ein Menschenfuß betreten hatte. Eines Tages gelangte er in einen grenzenlos weiten Wald, in dem er auf Holzfäller des Han-Volkes traf. Wie froh war er, in so einem verlassenen Bergwald auf Menschen zu treffen! Sie kamen mit Maosha ins Gespräch und fragten ihn nach seiner Herkunft und seinem Namen. Er blickte diese guten Menschen an und sagte: „Ich habe keine feste Bleibe, ich ziehe von einem Berg zum anderen, kein böses wildes Tier entkommt mir. Ich bin ein umherziehender Wildschweinjäger.“ Der mutige Bursche gefiel ihnen, und so luden sie ihn ein, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Abends am Lagerfeuer wollte Maosha, dass sie ihm etwas über diesen Wald erzählten. Also berichteten sie ihm davon, wie sie lebten, und von den wilden Tieren, und schließlich seufzten sie: „Ach, hier ist es schön, aber dennoch wollen wir nicht länger bleiben“. „Warum?“ Da antworteten sie: „Du weisst nicht, dass vor Kurzem ein weißer Fasanen-Dämon hier hergekommen ist. Jede Nacht um Mitternacht fliegt er aus, setzt sich auf einen Ast dieses Baumes da und stößt seltsame Schreie aus, das ist äußerst furchterregend. Nach einer Doppelstunde setzt er sich auf einen anderen Ast und schreit dort auf jene seltsame Art, und nach einer Weile setzt er sich auf einen anderen und führt sein unheimliches Geschrei fort. So geht es bis zur Dämmerung. Noch merkwürdiger ist, dass davor noch das erbärmliche Wimmern eines Mädchens zu hören ist. Diese Merkwürdigkeiten machen uns Angst, deshalb haben wir beschlossen, diesen unheilschwangeren Ort zu verlassen.“
Als Maosha dies vernommen hatte, da dachte er, das sei wieder so ein zerstörerischer Dämon, dem er unbedingt den Garaus machen müsse. Er sprach zu den Holzfällern: „Habt keine Angst, ich werde heute nacht nach dem Rechten sehen!“ Um Mitternacht hielt er mit den anderen neben dem großen Baum Ausschau. Zu dieser Zeit war es so finster, dass man fast nichts mehr sah. Plötzlich gewahrten sie ganz verschwommen einen großen weißen Vogel, der auf einem Ast saß und anhub zu schreien, gleichzeitig drang aus unbestimmter Entfernung die herzerweichende Klage eines jungen Mädchens zu ihnen. Als der Dämon zum dritten Mal schrie, da schnellte Maoshas Pfeil los und traf ihn in die Brust. Wie ein Stein fiel er vom Baum herunter und weiter bis ins tiefe Tal. In diesem Augenblick verstummte das Weinen des Mädchens. Als es dämmerte, fand Maosha im Tal den Kadaver des weißen Dämons, es war tatsächlich der weiße Fasan. Er war froh, dass die Gefahr gebannt war, doch noch konnte er sich keinen Reim auf das Wimmern des Mädchens machen. Er rupfte dem weißen Fasan eine Feder aus und steckte sie sich als Andenken ins Haar. Am Morgen nahm er Abschied von den Holzfällern und brach wieder auf.
Nachdem Banggao vom weißen Fasanen-Dämon verschleppt worden war, hatte er sie in einer Höhle gefangen gehalten und wollte sie zwingen, seine Frau zu werden. Doch Bangguo dachte nicht daran, ihm zu Willen zu sein. Gleich wie er drohte, ihr Gewalt anzutun, sie erwiderte nur ein kurzes „Nein!“. Den ganzen Tag schluchzte sie, sie wolle nach Hause. Aus Furcht, sie könnte fliehen, belegte sie der weiße Fasanen-Dämon mit einem Zauber, der sie einschläferte. Jeden Tag vor Morgengrauen erwachte sie aus ihrer Ohnmacht und begann zu klagen, worauf er begann, ohne Unterlaß zu schreien. Darauf sank sie wieder ohnmächtig hin. Nun, da Maosha ihn erlegt hatte, wachte sie auf und stürzte aus der Höhle. Sie wusste nicht, wo sie war, gelangte zu einem Wald am Fuße des Berges und traf dort die Holzfäller. Diese fragten das ratlose Mädchen aus und erfuhren, dass sie es war, die Nacht um Nacht geweint hatte, und dass eben sie durch den jungen Wildschweinjäger gerettet worden war. Sie erzählten ihr auch von den Geschehnissen der letzten Nacht. Doch leider wüsste niemand, wohin der junge Wildschweinjäger gegangen sei. Doch er trüge eine Feder des weißen Fasans im Haar, daran würde man ihn erkennen.
Banggao wusste, dass ihr Retter niemand anders war als Maosha, nach dem sie sich Tag und Nacht gesehnt hatte. Doch wo sollte sie nach ihm suchen? Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit den hilfsbereiten Holzfällern zurück zu ihrem Dorf zu gehen. Als die Eltern ihr geliebtes Töchterchen zurückkommen sahen, waren sie außer sich vor Freude. Sie umarmten sie und sprachen unter Tränen: „Töchterchen, was ist denn nun eigentlich geschehen? Wo warst Du? Wir sind vor Sehnsucht nach dir fast gestorben!“ Banggao erzählte den Eltern haarklein, was ihr Schlimmes widerfahren war, und wie Maosha sie gerettet hatte. Und leise gestand sie nun, wie sie Maosha kennen- und lieben gelernt hatte: „Ich liebe nur ihn, und jetzt war er es, der mich gerettet hat. Auch wenn ich nicht weiss, wo er sich aufhält, so werde ich auf ihn warten.“ Das freute ihren Vater sehr, der Maosha einmal gesehen hatte und diesen mutigen Burschen mochte. Doch er war ein Vagabund, und wer wusste schon, wo er sich gerade aufhielt, und wann er wieder in ihr Dorf kommen würde? Es war wahrlich zum Verzweifeln.
Ein paar Monate gingen ins Land, dann war es schon ein halbes Jahr, doch von Maosha keine Spur. Das Mädchen wartete und wartete und sah immer abgehärmter aus. Eines Tages sagte der alte Gaoque plötzlich voller Freude zu seiner Frau: „Es gibt einen Weg, wie wir ihn bestimmt finden können!“ „Wo willst Du ihn denn suchen?“, meinte diese. Darauf sprach der Alte: „Lass uns die Menschen aller umliegenden Dörfer zu Tanz und Gesang einladen, dann wird bestimmt auch Maosha kommen!“ Gaoque war ein kluger und geschickter Mann. Er nahm Bambus und fertigte daraus eine Mundorgel, die man später „Lusheng“ nannte. Diesem Instrument vermochte er wunderschöne Töne zu entlocken. Er brachte den jungen Dörflern bei, wie man es herstellt und unterwies alle, auf ihm zu blasen. Die Lusheng wurde mit der Zeit immer besser, ihr Ton immer bezaubernder. Zu Neujahr begingen sie das Lusheng-Fest, auf dem alle tanzten, sangen und die Lusheng bliesen. Es kamen nicht nur alle Dorfbewohner, sondern es zog auch alle aus den umliegenden Dörfern an. Je ausgelassener sie tanzten und sangen, desto mehr Menschen kamen. Neun Tage und neun Nächte tanzten sie. Am neunten Tage entdeckte Banggao in der Menge einen Burschen mit einer Fasanenfeder im Haar. Sie sah genau hin und erkannte Maosha. Das Mädchen war über alle Maßen beglückt, eilte zu ihrem Vater und erzählte ihm davon. Gaoque lud Maosha daraufhin zu sich nach Hause, ließ den Tisch decken und bewirtete ihn mit Speis und Trank. Maosha verstand nicht, was es damit auf sich hatte und wollte gerade fragen, als der Alte ihm eröffnete: „Mutiger Jüngling, du warst bereits einmal bei uns und hast zwei böse Dämonen besiegt, jetzt möchte ich von dir wissen: woher hast du die Fasanenfeder in deinem Haar?“ Da erzählte Maosha in allen Einzelheiten, wie er im Wald dem Fasanen-Dämon den Garaus gemacht hatte, und fügte zuletzt hinzu: „Ich kann es mir noch nicht erklären, warum zu jener Zeit ein Mädchen geweint hat, und warum das Weinen sogleich ein Ende nahm, sobald ich den Fasanen-Dämon abgeschossen hatte.“ In diesem Augenblick trat Banggao hervor und sah Maosha leuchtenden Auges an. Der Alte wies auf sie, erzählte ihm, wie es sich zugetragen hatte und offenbarte ihm auch den Anlass für das Lusheng-Fest.
Maosha bemitleidete das Mädchen zutiefst um das, was ihm widerfahren war und außerdem – wer hätte diese schöne Banggao nicht lieben können? So kam es, dass aus Banggao und Maosha ein glückliches Paar wurde.
Es heisst, dass das Lusheng-Fest des Volkes der Miao zu dieser Zeit entstanden ist. Und seither stecken sich die jungen Männer und Frauen, wenn sie zur Lusheng-Musik tanzen, Fasanenfedern ins Haar. Zum einen, um damit zu zeigen, dass sie die bösen Dämonen nicht fürchten und zum anderen, um einen Mann oder eine Frau ihrer Wahl zu finden. Später dann, als es einen Mangel an Fasanenfedern gab, begannen die jungen Frauen, sich stattdessen mit Silberspangen in der Form von Fasanen-Schwanzfedern zu schmücken.
(c) Jessica Mayer