Aus dem Chinesischen übertragen von Jessica Mayer und Rupprecht Mayer. Erschienen in Hefte für Ostasiatische Literatur, Nr. 47, November 2009.
Vor langer, langer Zeit lebten zwei alte Eheleute in bitterer Not. Sie hatten einen Sohn, der in dieser armen Familie Tag um Tag zu einem kräftigen Jüngling heranwuchs. Eines Tages starb der alte Vater, und nun war es an dem Jüngling, in den Bergen auf die Jagd zu gehen und die Mutter zu versorgen.
Eines Tages ging der Jüngling wie gewohnt mit Pfeil und Bogen zum Jagen in die Berge. Als er zum Schuss auf einen weißen Fasan ansetzte, da erhob sich plötzlich ein Wirbelwind und trug den Fasan davon. Voller Wut schoss der Jüngling in den Wirbelwind hinein.
Doch wundersamerweise erlegte sein Pfeil einen Schuh, und ein paar Blutstropfen fielen zur Erde. Ein Dämon hatte sich in einen Wirbelwind verwandelt und die Tochter des Kaisers geraubt. Nun hatte ihn der Jüngling verletzt, und die Prinzessin hatte einen Schuh verloren.
Dies alles war dem Jüngling unbekannt. Der hob den Schuh auf und überlegte: Was soll ich mit diesem Schuh? Ich bekäme nicht viel Geld für ihn, doch wäre es ein Paar, dann könnte meine Mutter die Schuhe tragen.
Nach seiner Rückkehr suchte der Jüngling einen Schuster auf, um ihn ein Paar daraus machen zu lassen. Der Schuster erkannte den kostbaren Schuh sogleich, er hatte ihn nämlich vor nicht langer Zeit selbst für die Prinzessin angefertigt. Er fragte den Jüngling: „Der Hausvogt sucht überall nach der Besitzerin dieses Schuhs, wo hast du ihn her? Melde es schnell einem Beamten!“ Daraufhin ging der Jüngling mit dem Schuh zum Minister und berichtete, wie er ihn gefunden hatte. Der Minister sagte: „Dieser Schuh gehört der Prinzessin. Sie ist verschwunden, und die ganze Stadt sucht nach ihr. Führe mich zu dem Ort, an dem du den Schuh gefunden hast, dass ich ihn mir ansehe!“
Daraufhin führte der Jüngling den Minister zu dem Ort, wo er in den Wirbelwind geschossen hatte. Er suchte nach Blut am Boden und fand eine Spur von Blutstropfen, die den Berg hinan führte. Sie verfolgten diese Spur, und wo sie endete, da entdeckten sie eine Berghöhle, in der es stockfinster war. Der Minister hieß den Jüngling, in die Höhle hinabzusteigen und die Prinzessin zu suchen. Wenn er sich weigerte, würde er geköpft. Darauf wurde der Jüngling an einem Seil hinuntergelassen.
In der Höhle fand sich der Jüngling in einer anderen Welt. Er gelangte an einen kleinen Fluss und sah dort eine Jungfrau. Die fragte er: „Jungfrau, seid Ihr die Prinzessin? Ich bin hier, um die Prinzessin zu suchen. Wenn Ihr es seid, dann kommt mit mir!“ „Ja, ich bin die Prinzessin, aber wir können nicht so einfach davongehen. Der Dämon würde uns fressen!“ „Was ist dann zu tun?“ wollte der Jüngling wissen. „Die Seele des Dämons wohnt in zwei Fischen – einem goldnen und einem silbernen. Wir müssen mit dem Schwert, das an einer Säule hängt, die Fische töten, erst dann können wir den Dämon töten. Ich gebe dir diese Blume. Wenn du sie bei dir trägst, kann der Dämon dich nicht sehen. Ist er erst eingeschlafen, dann töten wir ihn gemeinsam.“ Daraufhin brachte sie den Jüngling in das Haus des Dämons.
Als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und es dunkel wurde, schleppte der Dämon eine Menge von Tigern und Panthern herbei, verschlang sie und schlief dann gesättigt ein. Kurz darauf trat aus seiner linken Kopfhälfte ein goldner Fisch und aus der rechten ein silberner Fisch. Schnell nahmen der Jüngling und die Prinzessin das Schwert von der Säule und töteten den goldenen und den silbernen Fisch. Danach war es für sie ein Leichtes, dem Dämon den Garaus zu machen.
Nun flohen sie zum Eingang der Höhle, und der Jüngling bat die Prinzessin: „Lass mich zuerst hinauf! Wenn du zuerst gehst, dann wird mich der Minister hinunterwerfen.“ „Nein, ich habe Angst, allein hier unten zu bleiben“, erwiderte die Prinzessin, „lass mich zuerst gehen“. Der Jüngling sagte daraufhin: „Gut. Doch gib mir ein Pfand des Angedenkens!“ Die Prinzessin zog einen Ring von ihrer Hand und gab ihn ihm. Oben angekommen bat sie den Minister, das Seil für den Jüngling hinunterzulassen.
Aus Angst, der Minister würde ihm nach dem Leben trachten, ließ sich der Jüngling erst nicht selbst hinaufziehen, sondern befestigte einen Stein am Seil. Und tatsächlich – als das Seil halb oben war, ließ der Minister es los. Er glaubte nun, der Jüngling sei gewiss durch den Sturz zu Tode gekommen und mahnte die Prinzessin: „Sage zu Hause, dass ich es war, der dich gerettet hat, sonst…..“ Unter dieser Drohung blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihm zum Palast zurückzukehren. Beglückt über die gesunde Rückkehr der Prinzessin belohnte der Kaiser den Minister mit seinem halben Vermögen und gab ein Festmahl zur Feier ihrer glücklichen Rückkehr.
Nun konnte der Jüngling nicht mehr durch die Höhle entkommen. Er ging zurück zum Haus des Dämons, in dem es viele Gemächer gab, die alle verschlossen waren. Er suchte nach den Schlüsseln und fand einen goldenen. Mit dem öffnete er eine goldene Tür. Das Gemach war voll von Pferdeknochen. Mit einem silbernen Schlüssel öffnete er eine silberne Tür. Das Gemach war voll von Hundeknochen. Mit einem kupfernen öffnete er eine kupferne Tür. Das Gemach war voll von Schafsknochen. Endlich öffnete er mit einem eisernen Schlüssel eine eiserne Tür und entdeckte in jenem Gemach einen Drachen. Seine vier Füße waren mit Eisenketten befestigt, so dass er keinen Mucks tun konnte, doch er war noch nicht tot. Der Drache fragte den Jüngling, wo er herkomme. Der erzählte ihm darauf von der Tötung des Dämons, der Rettung der Prinzessin und davon, dass er nicht mehr durch die Höhle zurück könne. „Gut so“, sprach darauf der Drache, „zerschlage mit der Axt die Eisenketten, dann trage ich dich auf meinem Rücken zurück ins Reich der Menschen.“
Der Jüngling zerschlug nun die Eisenketten, und der Drache hieß ihn, ihn fest zu umfassen und keine Furcht zu haben. Dann flogen sie los und kamen durch den Höhleneingang nach draußen. Der Drache lud den Jüngling ein, mit ihm in sein Haus zu kommen. Doch der wehrte ab: „Meine alte Mutter wartet auf mich, und sie wird Hungers sterben, wenn ich nicht zurückkomme.“ „Dann komm nur für ein paar Tage. Meine Eltern werden dir etwas schenken. Wünsche dir nichts anderes als das Drachenhorn und die goldenen Essstäbchen. Dann hast du für dein Leben ausgesorgt.“ So kamen der Jüngling und der Drache zum Drachenpalast. „Das ist mein Retter, er hat den Dämon getötet und mich befreit“, berichtete der Drache seinen Eltern. Der Jüngling bekam nun das beste Gemach und auserwählten Speis und Trank. Sieben Tage lang wurde er aufs beste bewirtet.
Als der siebente Tag kam, da bestand er darauf zurückzukehren. Beim Abschied fragten ihn die Dracheneltern, was er noch brauche. Da nannte der Jüngling das Drachenhorn und das Paar goldener Stäbchen. Sie sagten: „Das sind die allergrößten Kostbarkeiten, und es fällt uns nicht leicht, uns von ihnen zu trennen. Doch du bist der Retter unseres Sohnes, also sollst du sie haben!“
Der Jüngling nahm die Geschenke entgegen, bestieg den Drachen, und dann flogen sie gemeinsam auf die Erde zurück. Vor dem Auseinandergehen fragte der Jüngling: „Älterer Bruder Drache, du wolltest, dass ich mir diese zwei Kostbarkeiten wünsche, doch wofür sind sie gut?“ „Durch sie bekommst du alles, was du dir wünschst, dein ganzes Leben lang.“ „Zeig mir doch, wie ich mich ihrer bedienen kann!“ Daraufhin schlug der Drache mit den goldenen Stäbchen an das Drachenhorn, und auf einmal stand ein prächtiges Zelt vor ihnen. In ihm gab es alles, was das Herz begehrt. Der Anblick versetzte den Jüngling in Verwunderung und Freude.
Nach seiner Trennung von dem Drachen machte sich der Jüngling mit den beiden Kostbarkeiten auf den Weg in die Heimat. Als er lange gewandert war, wurde er ein wenig müde und dachte bei sich: „Die Heimat ist noch so weit. Heute werde ich vielleicht nicht einmal ein Dorf finden, wo ich rasten kann. Hätte ich nur ein Pferd, dann wäre alles gut!“ Dann bediente er sich des Drachenhorns und der goldenen Stäbchen, und unversehens stand vor ihm ein edles Ross. Hochbeglückt bestieg er es und setzte seine Reise fort. Nachdem er bis in den Abend hineingeritten war, bat er im Hause eines reichen Mannes um Herberge.
Da er den ganzen Tag unterwegs gewesen war, hatte er Hunger und Durst. Er klopfte an das Drachenhorn und aß üppig zu Abend. Dabei wurde er vom Hausherrn beobachtet. Der dachte sich: „Dieses Drachenhorn muss eine Kostbarkeit sein, wie schön wäre es, wenn ich es an mich bringen könnte!“ Da kam ihm der böse Gedanke, den Jüngling umzubringen. Als jener seine Mahlzeit beendet hatte, fragte er ihn, wann er aufzubrechen gedenke. Der Jüngling meinte, er habe Sehnsucht nach seiner Mutter und wolle sich schon im Morgengrauen auf den Weg machen. Das kam seinem Gastgeber zupass, und er schmiedete einen grausamen Plan. Am nächsten Tag ging er noch vor Tagesanbruch aus dem Haus, versteckte sich unter einer Brücke vor dem Dorf und lauerte dem Jüngling auf.
Als der nun auf die Brücke geritten kam, stüzte er hinauf und entriss dem Jüngling, der an nichts Böses dachte, im Schutz der Dunkelheit das Drachenhorn. Dann stieß er Ross und Reiter die Brücke hinunter. Hochbeglückt über den Besitz des Drachenhorns klopfte er mit einem aufgelesenen Kieselstein darauf und rief: „Gib mir etwas Gutes zu essen! Ich will jetzt essen!“ Doch so oft er auch rief, es geschah nichts. Ohne die goldenen Stäbchen war das Drachenhorn nämlich zu nichts nütze.
Inzwischen kletterte das Wunderross mit dem Jüngling, den es vor dem Ertrinken gerettet hatte, wieder zurück auf die Landstraße. Das Treiben des reichen Mannes entlockte dem Jüngling wütende und spöttische Worte. Er trat vor ihn hin und sagte: „Gib mir das Drachenhorn besser zurück, es wird dir nichts nützen!“ Als der reiche Mann den Jüngling erblickte, fiel er aus allen Wolken und bekam es mit der Angst. Es blieb ihm nichts übrig, als das Drachenhorn zurückzugeben.
Mit der wiedererlangten Kostbarkeit kehrte der Jüngling in seine Heimat zurück. Seine Mutter war überglücklich und wollte gleich wissen, wo er all die Tage geblieben sei. Er erzählte ihr nicht die Wahrheit, sondern meinte nur, er habe einen Ausflug gemacht. Dann fragte er sie, was es während seiner Abwesenheit Neues gegeben habe. „In diesen Tagen“, so die Mutter „hat es hier viel Trubel gegeben. Die Tochter des Kaisers wurde vom Minister zurückgebracht. Der Kaiser hat ihm daraufhin die Hälfte seines Besitzes geschenkt, und bis heute wird das freudige Ereignis gefeiert.“ Der Jüngling fragte sie: „Hast du dabei auch zugesehen?“ “Wir sind so arm, dass es nicht einmal zum Essen reicht. Wie soll ich da die Muße haben, diesem Treiben zuzusehen?“ war die Antwort seiner Mutter.
Daraufhin schlug der Jüngling an das Drachenhorn und bat um ein einfaches Gewand für seine Mutter. Tags darauf ließ er sie das neue Gewand anziehen, und sie gingen zusammen in die Stadt, um sich alles anzusehen. Vor dem Kaiserpalast trafen sie auf eine große Menschenmenge, die fröhlich und ausgelassen feierte. Der Kaiser war ebenfalls vergnügt und lächelte, nur die Prinzessin saß kummervoll und geistesabwesend da. Der Jüngling sprach kein einziges Wort und ging mit seiner Mutter nach Hause. Dort klopfte er wieder an das Drachenhorn und sagte: „Ich brauche das schönste Gewand und den schönsten Sessel!“ Er legte das Gewand an, nahm den Sessel und kehrte zum Kaiserpalast zurück, um bei den Schauspielen zuzusehen. Er nahm auf dem Sessel Platz, zündete sich seine Pfeife an und richtete es so ein, dass der Ring an seiner Hand gut zu sehen war.
Die Prinzessin erkannte den Ring als den, welchen sie in der Höhle ihrem Retter geschenkt hatte. Und mit einem weiteren Blick erkannte sie in dem Träger des Rings ihren Retter. Sie war aufs Höchste erstaunt und lief zum Kaiser, um ihm den Hergang ihrer Rettung in allen Einzelheiten zu berichten. „Der Jüngling, der da unten sitzt“, sagte sie dann, „der ist mein wahrer Retter!“ Da erkannte der Kaiser, dass der Minister ihn getäuscht, dem Jüngling nach dem Leben getrachtet und das Vermögen durch Betrug an sich gebracht hatte. Er bebte vor Zorn und ließ den Minister auf der Stelle töten. Dann gab er die Prinzessin dem Jüngling zur Frau, und fortan lebten sie glücklich und zufrieden miteinander.
Erzähler: Phurbu Dolma, 48 Jahre alt, arme Landsklavin, und Dschampa, 27 Jahre alt, Arbeiter.
Datum der Aufzeichnung: 14.5.1960
Notiert und übersetzt von Dolru und Fu Tongru.
Den Kern dieses Märchens bildet eine Aufzeichnung von Zhuoru und Fu Tongru aus Xiayadong, Tibet [eine Gemeinde in Yadong, tibetisch Chomo, Anm.d.Ü.]. Zusätzlich wurden einige Einzelheiten eingearbeitet, die von Keba und Duan Baolin in Shigatse aufgezeichnet wurden.