Zeit der Nacktheit – der gläserne Mensch

Beitrag von Hong Liu 洪流 (Anwalt, Joinway Law Firm) für die Wochenschrift Xinmin Zhoukan, Nr.14, April 2012, S.88.

Übersetzung:

Wann hat es angefangen, dass wir alle möglichen Anrufe und SMS unbekannten Ursprungs bekommen und wir gefragt werden, ob wir eine Wohnung kaufen, einen Kredit aufnehmen oder eine Versicherung abschließen wollen? Und die meisten Anrufer kennen sogar unseren Namen. Haben Sie sich vielleicht schon an diese belästigenden Anrufe gewöhnt und sehen sie als einen Teil des Lebens, sind Sie vielleicht schon abgestumpft und fragen sich gar nicht mehr, wie der Anrufer an Ihre Handynummer und Ihren Namen gekommen ist?

Wenn Ihnen aber nun jemand sagt, dass Ihre Handynummer, Ihre Familienverhältnisse, Ihre Wohnadresse, Informationen zu Ihrem Wohneigentum, Ihr Kfz-Kennzeichen und Ihr Bankkonto samt Guthaben kinderleicht für einen ein- oder zweistelligen RMB-Betrag zu kaufen sind, lässt Sie das dann immer noch kalt?

Wir müssen im Laufe unseres Lebens alle möglichen Tabellen ausfüllen, in denen wir entsprechenden Stellen aus dem Finanzwesen, der Telekommunikation, dem Verkehr, dem Bildungswesen und dem medizinischen Bereich alle möglichen persönlichen Daten zur Verfügung stellen müssen. Diese Angaben können dann zum Objekt für potentielle Straftäter werden. Einige werden die persönlichen Daten im Paket weiterveräußern, andere werden diese persönlichen Daten kaufen und unter der Hand weiterverkaufen für kommerzielle Zwecke oder aus kriminellen Motiven. In der Rechtspraxis gibt es immer mehr derartige Fälle der Gefährdung von Bürgern durch die Preisgabe persönlicher Daten. Im Strafrecht hingegen ist kein einziger entsprechender Paragraph zu finden, nach dem man ein Verfahren einleiten könnte.

Deshalb sind in der am 28. Februar 2009 vom Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongress verabschiedeten 7. Revision des Strafgesetzes Regeln hinsichtlich des Straftatbestandes “des Verkaufs, der illegalen Bereitstellung und der illegalen Beschaffung der persönlichen Daten von Bürgern” sowie seiner Ahndung hinzugekommen, und einige legislative Organe auf lokaler Ebene haben ebenfalls damit begonnen, die Gesetzgebung zum Schutz der persönlichen Daten auszubauen.

Am aufsehenerregendsten war in letzter Zeit ein dieses Jahr durch die CCTV-Sendung “3.15″ aufgedeckter Fall der Tochterfirma einer großen internationalen Beratungsfirma, die in den Verdacht einer solchen Straftat gekommen war; noch am selben Tag führte die Polizei gegen einige hohe Manager dieser Firma Zwangsmaßnahmen durch.

Lässt man die mehrtausendjährige Geschichte Chinas Revue passieren, so haben wir uns bereits daran gewöhnt, die Gesellschaft und das Kollektiv als die Norm anzusehen. Die Respektierung der Individualrechte wurde oft hintangestellt, und diese Art von Missachtung erreichte ihren Zenith in den zehn Jahren der Kulturrevolution. In dieser besonderen Zeit waren persönliche Briefe, persönliches Eigentum, sogar das Kochen zu Hause und der Besuch der Toilette dem Auge der Volksmassen ausgesetzt. Kein Bürger hatte persönliche Geheimnisse, ganz zu schweigen von einem Bewusstsein für Menschenrechte, wie dem Recht auf Privatsphäre des Einzelnen.

Als diese zähe chinesische Tradition in der wirtschaftlich reformierten Gegenwart mit dem Teufelchen “Profit” zusammentraf, da begann sie durch die unerschöpfliche Klugheit des chinesischen Volkes eine Unzahl von “Businesschancen” zu kreieren. Alle persönlichen Daten der Bürger und deren entsprechende Privatsphäre sowie die sich daraus ergebenden Grundrechte der Bürger sind zu auf dem Markt verkäuflichen Waren geworden.

Heute haben wir ein Gesetz zum Schutz der persönlichen Daten der Bürger, aber genügt es denn, nur so ein Gesetz zu haben und ein paar Kriminelle zu fangen?

Vom Prinzip und der Theorie des Rechts her gibt es einige gleiche Grundprinzipien, egal ob West oder Ost, ob angelsächsisches Recht oder Kontinentalrecht. Doch der gleiche Fall kann in unterschiedlichen Ländern und Orten grundverschiedene Urteile nach sich ziehen. Wenn beispielsweise in den USA ein Krimineller bei dir einbricht, dann kannst du den Eindringling ohne mit der Wimper zu zucken erschiessen, ohne die rechtlichen Konsequenzen vorsätzlicher Tötung oder vorsätzlicher Körperverletzung fürchten zu müssen.

Doch hierzulande ist es so, dass selbst wenn halbkriminelle Schlägertypen zu dir kommen, um unrechtmäßigerweise dein Haus abzureissen und dich zum Umsiedeln zu zwingen, und du sie während dieser Tat verletzt oder tötest, dann wirst du der vorsätzlichen Tötung bzw. der vorsätzlichen Körperverletzung beschuldigt (obwohl auch ein “Notwehrexzess” in Frage gekommen wäre), und der Richter wird dich wahrscheinlich zur Rechenschaft ziehen.

Hier zeigt sich eine unterschiedliche Einstellung verschiedener Länder und Gesellschaften zu bestimmten Grundrechten. Würden alle Gesellschaften die Erhabenheit und Unantastbarkeit der Persönlichkeitsrechte des Bürgers anerkennen, dann würde die Tötung eines Eindringlings vom Volk und vom Richter anerkannt. Wenn dagegen diese Gesellschaft die Unantastbarkeit der Persönlichkeitsrechte der Bürger noch nicht anerkennt, dann bist du mit deiner “Selbstverteidigung” über den von der Gesellschaft eingeräumten Schutzbereich der Persönlichkeitsrechte der Bürger hinausgegangen.

Was mir wiederum “des Kaisers neue Kleider” in den Sinn bringt: Wir haben heute ausführlich über die persönlichen Rechte der Bürger gesprochen – wenn es aber nur auf dem Papier einige gesetzliche Regeln gibt, die Rechtspflege jedoch nachlässig ist und in der Praxis große Abstriche gemacht werden und Wiedersprüchlichkeiten bestehen, oder wenn die Bürger selbst diese Regeln nicht ausreichend schätzen, dann verhält es sich mit diesen kodifizierten Gesetzen wie mit des Kaisers neuen Kleidern – wir meinen, es gäbe sie, in Wirklichkeit aber stehen wir splitternackt da.