Gastbeitrag des Wirtschaftswissenschaftlers Shen Hongpu 沈洪溥 für die Wochenschrift Xinmin Zhoukan, Nr.50, Dezember 2011, S.10.
Übersetzung:
Zum Jahresende sollten die Gedanken eher in die Zukunft schweifen, so erscheint die öffentliche Debatte, man sei “wieder am Ausgangspunkt angelangt”, nicht sehr passend. Doch ist genau in dieser Woche der Index der Shanghaier Börse tatsächlich wieder bei seinem Ausgangswert von vor zehn Jahren angekommen. Man kann das nicht anders als ein höchst symbolträchtiges Resultat bezeichnen. Dass vor dem Hintergrund von Führungswechseln in den Aufsichtsbehörden für Banken, Versicherungen und Wertpapiere sowie vor dem Hintergrund der ZK-Tagung zur Wirtschaftsarbeit der als Barometer für Konjunktur und Investitionsbereitschaft geltende Aktienmarkt unerwarteterweise den weltweit schlimmsten Bärenmarkt darstellt, darüber lohnt sich nachzudenken.
Der Verfasser ist der Ansicht, dass der heutige Stand des Aktienmarkts nicht von ungefähr kommt. Hier deutet sich vielleicht an, dass das Marktvertrauen bereits auf das niedrige Niveau von vor zehn Jahren gesunken ist. Warum nimmt aber mit dem ununterbrochenen Anstieg der wirtschaftlichen Gesamtstärke unseres Landes nicht auch das Vertrauen der Menschen in gleichem Maß zu? Die wahrscheinlichste Antwort ist, dass ein allgemein bekanntes Problem im Zuge des Wachstums nicht angemessen gelöst wurde. Dieses noch nicht greifende “Problem” sind die Strukturanpassungen.
Bei der Frage, was wichtiger ist, Wachstum oder Struktur, gab es im Wesentlichen keine großen Meinungsverschiedenheiten. Ersteres musste sich schon immer Letzterem unterordnen. Tatsächlich bedeutete das sogenannte “Wachstum“ von Anfang an nur einen Index-Anstieg, es ist keinesfalls ein Synonym für “Entwicklung“. Im Gegenteil – Letztere beinhaltet Strukturanpassung, ein wichtiges Element, das im “Wachstum“ nie enthalten war. Das ist eigentlich ein Gemeinplatz, aber dafür haben wir in den letzten zehn Jahren ein hohes Lehrgeld gezahlt.
Ein hohes Lehrgeld in mehrfacher Hinsicht. Erstens sind die verbrauchten Geldsummen enorm. Als sich 2008 die Finanzkrise zuspitzte, hat die Zentralregierung, im Sinne der “Wahrung des Wachstums“ ein Stimulusprogramm von vier Billionen RMB aufgelegt. Das ist selbst im Vergleich zum Krisen-Notprogramm der USA und zum Stabilitätsfonds des wieder in die Krise geratenen Europa ein astronomischer Betrag. Dabei ist das nur das von der Zentralregierung auf den Weg gebrachte Programm. Rechnet man die flankierenden Beträge der Lokalregierungen dazu, dann dürfte sich die Summe verdoppeln. Diese annähernd zehn Billionen RMB wurden zum Großteil in Infrastruktur und Immobilien investiert, der weit überwiegende Teil davon mündete nicht in Produktivität. Letztendlich bestand das Resultat nur in einer Menge von Straßen und Brücken, auf denen kein Auto fährt, und einer Menge von Wohnungen, in denen keine Menschen wohnen.
Zweitens sind die Sektoren der virtuellen Wirtschaft übermäßig aufgebläht. Die Investitionsgelder flossen aus den Kreditkanälen direkt in den staatlich gelenkten oder kontrollierten Bausektor. Dies kaschierte den raschen Rückgang des Außenhandels und die lang anhaltende Konsumschwäche, das Gesamtwachstum war so fürs erste natürlich unproblematisch, und auch die Zahlen der verschiedenen Regierungsebenen sahen viel besser aus. Doch leider brachte die unerwartete Geldschwemme die gerade einsetzende Immobilienmarkt-Steuerung um ihre Wirkung, und die gerade allerorten etwas nachgebenden Immobilienpreise gingen sofort wieder nach oben.
Unter dem Anreiz astronomisch hoher Investitionssummen und enormer Gewinne überboten sich viele Unternehmen der Realwirtschaft darin, darunter sogar große, vor Cashflow strotzende Monopolisten wie Sinopec, ihre Gelder am Immobilienmarkt anzulegen, um dort mächtige Profite einzustreichen. Die Blase in den virtuellen Wirtschaftssektoren, für die der Immobilienmarkt repräsentativ ist, schwoll so von Tag zu Tag mehr an. So wanderte das Kapital beständig aus der Realwirtschaft ab, mit ihr gab sich niemand mehr ab. Die Immobilienblase blieb auf ihrem hohen Niveau, für die meisten Menschen wurde es zur Lebensaufgabe, an eine Wohnung zu kommen.
Drittens wuchs sich der Anstieg der Konsumgüterpreise zu einer Inflation aus. Während die Produktivität der Realwirtschaft stagnierte, zog es mehr und mehr Gelder in die Sektoren der unproduktiven virtuellen Wirtschaft. Man wusste nicht wohin mit diesen Geldern, also flossen sie in alle möglichen Güter, von Ingwer, Knoblauch und Bohnen bis hin zu Reis, Mehl und Öl, überall gingen die Preise nach oben. Schaut man jetzt zurück, dann ist der Aktienmarkt zwar wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt, aber bei den Alltagsgütern lässt sich kaum eines finden, dessen Preis in den zehn Jahren nicht gestiegen wäre. Der Monetarismus lehrt uns, dass im Zeitalter des Papiergelds die überschüssige Geldmenge in begrenzte Güter fließt, wenn die Realwirtschaft sie nicht mehr aufnehmen kann. Das Ergebnis ist dann eine flächendeckende Inflation.
Wie bei einem vom “hohlen Fieber“ gepackten Menschen sind die inneren Organe eiskalt, nur Gesicht und Hände fiebern heiß. Das ist offensichtlich ein äußerst unnormaler Zustand. Die hohe Inflation der letzten Jahre ist ein wirtschaftliches Phänomen, das uns zeigt, dass Anpassungen der Politik überfällig sind und dass das Wachstum entschleunigt werden muss. Ohne strukturelle Anpassungen kann es kaum ein “gut und schnell, wieder auf eine höhere Stufe“ geben.
Zur Lösung der Probleme muss man in die Tiefe gehen und den Kern-Widerspruch lösen. Nach einer übermäßigen Ausgabe von Geld das Geldangebot wieder zu verknappen, und bei einem Güterpreisanstieg die Besteuerung bei den einzelnen Vertriebsstufen zu verringern, das ist ein Kurieren an Symptomen. “Ein großer Arzt heilt die Krankheiten, bevor sie ausgebrochen sind“, das heißt, die Politik muss die Fähigkeit zur Prognose und zur präventiven Steuerung haben, sie muss eine Übersteuerung vermeiden und das Kernproblem der suboptimalen Wirtschaftsstruktur angehen.
China besitzt zwar bereits die weltweit zweitgrößte Wirtschaftskraft, aber es sind immer noch Export und Investitionen, die das Wachstum antreiben, es stützt sich ausschließlich auf die Außenhandelsnachfrage und die Nachfrage aus inländischen Investitionen. In allen entwickelten Ländern ist der Binnenkonsum ein wichtiger Wachstumsmotor. Über den privaten Konsum, Beschäftigung für die Bevölkerung und die Haushaltseinkommen wird ein binnenwirtschaftlicher Einnahmen-Ausgaben-Kreislauf in Gang gesetzt, und so die Maxime “Stützung der Entwicklung auf das Volk, Entwicklung für das Volk und Genuss der Früchte der Entwicklung durch das Volk” verwirklicht.
Die kürzlich zu Ende gegangene ZK-Tagung zur Wirtschaftsarbeit hat erneut versucht, auf eben diese Problematik einzugehen. Vom Tenor der Tagung her nahm die Wachstumsstabilität zwar Platz Eins ein, aber die Kontrolle des Preisanstiegs und Strukturanpassungen folgten dichtauf, was deutlich macht, dass es bereits Vorbehalte gegenüber der Betonung der Wachstumsrate gibt. Gleichzeitig wurde nicht nur die “Stärkung der Konsumnachfrage” zu einem wichtigen Bestandteil der “Stärkung der Binnennachfrage“ erklärt, sondern auch die “tatkräftige Erhöhung der Kaufkraft der Bevölkerung, Steigerung der unteren und mittleren Einkommen” betont. Damit wurde der Leit-Kurs “die Binnennachfrage stärken, den Konsum stimulieren” mit noch mehr politischen Inhalten angereichert.
Es muss aber hervorgehoben werden, dass all diese Formulierungen nicht neu sind. Bereits auf der ZK-Tagung zur Wirtschaftsarbeit von 2001 wurde die Losung der “Stärkung der Binnennachfrage” ausgegeben. Zehn Jahre später ist sie immer noch nicht auf die Beine gekommen, und die Wirtschaftsstruktur tritt immer noch auf der Stelle. Zu hoffen ist, dass dieses Mal nicht die gleichen Fehleinschätzungen und Fehler wie in der Vergangenheit passieren.