Von Ma Guochuan 马国川. Originalartikel: Zhongguo Gaige Wang/ftchinese.com vom 31.12.2011.
Übersetzung:
Acht Tendenzen, die Chinas Reform beeinflussen
Zum Jahresende erregt das Thema „Chinas zukünftige Richtung“ überall in der Gesellschaft große Aufmerksamkeit. Aufgrund des im nächsten Jahr von der Regierungspartei einzuberufenden 18. Parteikongresses und dem bevorstehenden Führungswechsel in der Regierung im übernächsten Jahr lässt das Thema die Menschen um so mehr rätseln, und die Antworten bleiben im Nebel.
Der Verlauf der Geschichte gibt Propheten letztlich immer dem Gespött preis. In Wirklichkeit ist es besser, die gegenwärtigen Zusammenhänge zu analysieren, als sich die Mühe einer Vorhersage zu machen, denn schließlich „entscheidet die Gegenwart über die Zukunft.” Nach Ansicht des Verfassers gibt es derzeit acht Haupttendenzen in der chinesischen Gesellschaft, die Chinas zukünftige Richtung beeinflussen, ja sie sogar bestimmen.
Erstens: Der Staat wird immer mächtiger. Anfang des 21. Jahrhunderts gab es laute Rufe nach Regierungsreformen, und in der oberen Regierungsebene gab es dazu viel Zustimmung. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit sprach sich Chinas Ministerpräsident Wen Jiabao für die Reform von Regierungsinstitutionen aus, er erklärte, das Entscheidende sei der Wandel der Funktion der Regierung, Erfolg und Mißerfolg hingen davon ab. Der Schlüssel für die Veränderung der Staatsfunktionen sei der Rückzug der staatlichen Gewalt aus dem mikroökonomischen Bereich und ihre Hinwendung zur Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen. In den letzten Jahren jedoch, besonders seit Ausbruch der Finanzkrise, hat sich die staatliche Gewalt nicht nur nicht zurückgezogen, sondern intervenierte im Gegenteil häufig direkt in die mikroökonomischen Aktivitäten, ganz nach dem derzeit geläufigen Spruch „Die unsichtbare Hand wird immer unsichtbarer, die sichtbare Hand wird immer sichtbarer“. Die ubiquitären Staatseingriffe verzerren die Marktwirtschaftsmechanismen immer gravierender, beeinträchtigen eine rationale Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und verschlechtern die Beziehungen zwischen den Ebenen der Gesellschaft.
Zweitens: Die Justizreform ist vom rechten Weg abgekommen. Nachdem Xiao Yang, der ehemalige Präsident des Höchsten Gerichts, sein Amt abgegeben hatte, zeichneten sich einige neue Tendenzen bei der Justizreform ab. Einige kritisieren den Hang zur Professionalisierung in der Justizreform, sie sprechen sich vehement für ihre Demokratisierung aus und verlangen, zu einer Rechtspflege des Volkes zurückzukehren. Die “Gerichtsverfahren nach Art des Ma Xiwu” aus der Zeit, als sich die KPCh mit der Kontrolle der Shaanbei-Region [Yan’an, Anm.d.Ü.]) zufrieden gab, fanden wieder Anklang, und der auf die Spitze getriebene “Anti-Mafia-Kampf” Chongqings erregte in Juristenkreisen Besorgnis.
Das Justizwesen sollte eigentlich die Begrenzung der öffentlichen Gewalt zum Prinzip haben, doch wurde in den letzten Jahren immer wieder betont, man müsse „für die Partei und die Gesamtlage des Landes Rechtssicherheit gewährleisten“. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde vollständig aufgegeben, ja sie wurde fast auf ein Werkzeug zur Stabilitätswahrung reduziert. Von dem Rechstwissenschaftler He Weifang stammt das Gedicht: „Auf dem Schachbrett liegen Bauern, Pferd und Turm im Streit, das Auge des Gesetzes wird durch die verschiedenen Fraktionen verwirrt. Die Regierung kommt auf immer neue Kniffe, um altbekannte Flüsse nach den Steinen tastend zu überqueren.” Es bringt die Niedergeschlagenheit und die Wut in Hinblick auf die Aussichten von Chinas Justizwesen auf den Punkt. Die Justizreform ist kein partielles Problem, sie betrifft die Gesamtheit der Reformen. Bei einer Schwächung der Mechanismen der Justiz wären alle politischen und ökonomischen Reformen nicht mehr abgesichert.
Drittens: Das Wirtschaftswachstumsmodell ist nur schwer zu verändern. Das im Zwölften Fünfjahresplan ins Auge gefasste Ziel eines Wandels des Wirtschaftswachstumsmodells zeugt von guten Absichten, es entspricht auch den Gesetzmäßigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung und dem weltweiten Wirtschaftstrend; das seit Jahren bestehende investitions- und exportgestützte Wachstumsmodell hat jedoch bereits eine Art „Weg-Abhängigkeit“ erzeugt. In einer Situation fehlender positiver Anreizmechanismen werden jedoch seine Nutznießer nicht ihre Handlungsweisen aufgeben. Beispiele sind die Abhängigkeit der Lokalregierungen von Finanzeinkünften aus Grund und Boden und die Abhängigkeit der Exportfirmen von der Subventions-Politik – sie werden sich sogar Reformen in den Weg stellen. Außerdem hat China in den letzten 30 Jahren zwar ein hohes Wachstum erreicht, dieses „Wunder“ ist aber keinesfalls einzigartig, sondern man könnte es als eine Mischung aus dem sowjetischen und dem ostasiatischen Modell bezeichnen. Es hat viele Schwachstellen; was das Transformationsziel des Staats letztendlich ist, das existiert nur auf dem Papier und in Slogans, eine klare Richtung gibt es nicht. Der polnische Politiker Kolodko hat einmal in einem vom Verfasser geführten Interview die Reformen Polens und Chinas miteinander verglichen. Er sagte, Polens Reform nach 1989 sei sich im klaren darüber gewesen, „woher sie komme“ und „wohin sie gehe.” Chinas Reform dagegen wisse nicht, „wohin sie gehe“, dies führe zu einer unsicheren Einschätzung von Chinas Zukunft.
Viertens: Die Interessengruppen werden immer mächtiger. Mehr als 30 Jahre Reform und Öffnung, politische Stabilität und ein hohes Wirtschaftswachstum haben ein Nebenprodukt hervorgebracht – die Stärkung und Festigung jener speziellen Interessengruppen, die die Richtung politischer Maßnahmen beeinflussen können. Das beste Beispiel dafür ist, dass einige den Interessengruppen schadende Gesetze erst nach langer Verzögerung auf den Weg gebracht und anschließend auch nicht effektiv angewandt wurden, wodurch sie die beabsichtigte Wirkung verfehlten. So ist zum Beispiel der Wortlaut des Kartellrechts, um dessen Veröffentlichung viel Aufhebens gemacht wurde, zuletzt in Bezug auf die Einschränkung administrativer Monopole stark verwässert worden, und es findet nur als Kampfinstrument im Interessen-Gerangel zwischen den verschiedenen Ressorts Anwendung. Die Stärkung der Interessengruppen führte zur Stagnation von Reformen in vielen Bereichen, in einigen sogar zu gravierenden Rückschritten. Das Volk verfügt im Grunde über keine Gewalt, die Interessengruppen in Schranken zu halten, und nur gestützt auf Beschränkungen durch die Regierung oder auf Beschränkungen, die sich aus dem Konkurrenzverhältnis der Interessengruppen ergeben, ergibt sich keine ausreichende Abwehr des von ihnen ausgehenden Schadens. In dieser Situation zeichnet sich die Tendenz des „Guo jin min tui“ (Vordringen des Staates bzw. der Staatsunternehmen bei gleichzeitigem Rückzug des Privatsektors) immer deutlicher ab. Die Effizienz der Gesamtwirtschaft und die soziale Gerechtigkeit werden beschädigt.
Fünftens: Die Korruption verschärft sich zusehends. Der Fall Liu Zhijun ist das prominenteste Beispiel der letzten Jahre. Betrachtet man allein die in den letzten Jahren veröffentlichten Korruptionsfälle, dann nimmt bei ihnen die Anzahl der Beamten und die Höhe der Beträge immer mehr zu. Obwohl die Regierungspartei wiederholt ankündigte, die Beamtenschaft rektifizieren und die Korruption rigoros bestrafen zu wollen, ist bis heute noch kein kompletter, abgerundeter Systementwurf auszumachen, der die Korruption verhindert und wirksam reduziert. In manchen Regionen wird im Gegenteil die Korruption noch öffentlicher, sie wird gar zu einem Teil des etablierten Systems. Die Fakten belegen, dass das Korruptionsproblem nicht nur nicht gelöst wird, sondern sich verschärft, wenn die Staatsmacht nicht eingegrenzt wird, und wenn keine demokratische Beaufsichtigung und gegenseitige Kontrolle stattfinden.
Sechstens: Es herrscht ein heftiger Ideenstreit, der Konsens in der Gesellschaft ist zerrüttet. Die geistigen Strömungen in Chinas Gesellschaft sind so vielfältig und kompliziert, wie man es in den letzten zehn Jahren kaum gesehen hat. Alle möglichen Auffassungen prallen aneinander, kreuzen die Klingen und geben keinen Handbreit nach. Ein Ausspruch Lu Xuns beschreibt das gegenwärtige Denken sehr anschaulich: „Die ehemals Reichen wollen die Restauration, die derzeit Reichen wollen den status quo, und die noch nie reich Gewesenen wollen Reformen.” In dem Gemenge der unterschiedlichen Auffassungen kommt der Konsens immer mehr abhanden. Der Wettstreit von Ideen und die Pluralisierung sind eine gute Sache, aber China hat durchaus nicht wie der Westen ein allgemeingültiges Wertesystem und einen von der Mehrheit als korrekt angesehenen Satz von Vernunftprinzipien, die als Mainstream-Ideen und als Stabilisator der Gesellschaft dienen könnten. Im Gegenteil, das von der offiziellen Seite errichtete „Mainstream-Wertesystem“ stößt beim Volk auf allgemeinen Spott, und die eigenen ideellen Tendenzen der Bürger gehen weit auseinander. Dieses Chaos nimmt der Reform die zentrale Idee. Man taumelt mal nach links, mal nach rechts, und gibt es ein paar Erfolge, so macht sich gleich Selbstzufriedenheit breit, weshalb die Reform nicht in die Tiefe gehen kann.
Siebtens: Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft sammelt sich an, es gibt immer wieder Massenzwischenfälle. Obwohl die friedliche Lösung der Demonstration in Wukan ein positives Beispiel und einige ermutigende Aspekte hat, so spiegeln die häufigen Ausbrüche anderer Massenzwischenfälle jedoch nach wie vor wieder, dass China noch nicht daran gewöhnt ist, mit an Regeln orientierten, modernen und rechtsstaatlichen Methoden Konflikte in der Gesellschaft zu lösen. Oft löst die regierende Partei Probleme mit ihren gewohnten politischen Methoden, zum Beispiel, indem sie Arbeitsgruppen einsetzt. Oft interpretiert sie Interessenfragen als politische Probleme und politisiert Rechtsprobleme. Dazu kommt, dass Korruption und Machtmissbrauch der Lokalregierungen und der Interessengruppen wichtige Auslöser der Massenzwischenfälle sind, und damit führt eine solche Herangehensweise zwingend zu noch größerer Unzufriedenheit. Vor kurzem betonte Chinas Premier Wen Jiabao auf der ZK-Tagung zur Arbeit im ländlichen Bereich, dass niemand das Recht habe, die Bauern ihres Landeigentums zu berauben. Dies zeigt, dass der Raub von Land-Interessen bereits hohe Aufmerksamkeit und Wachsamkeit der Zentralregierung hervorgerufen hat. Kurzfristig lassen sich die Massenzwischenfälle kaum abmildern, weil die Wurzel der Probleme nicht beseitigt ist, die Herangehensweise ist auch noch nicht institutionalisiert, und dies führt oft zur weiteren Zuspitzung von neuen Widersprüchen.
Achtens: Die Unwägbarkeiten des äußeren Umfelds nehmen zu. 2011 begann die Weltgeschichte in Nordafrika, der „Arabische Frühling“ hat in vielen Ländern die Alarmglocken läuten lassen, und derzeit gibt es noch kein Anzeichen für ein Ende. Da Putin auf einer weiteren Amtszeit bestand, sind die politische Richtung und die Entwicklungsrichtung Russlands noch unklarer geworden. Mit dem Tod Kim Jong-Ils ist die Lage in Nordostasien komplizierter und angespannter. 2012 ist in vielen Ländern Europas und in Amerika Wahljahr, und besonders vor dem Hintergrund der europäischen Schuldenkrise und der US-Wirtschaftsflaute ist es möglich, dass westliche Führer einige Themen aufbauschen oder „die chinesische Karte spielen“ werden und China zum Ziel von Schuldzuweisungen machen. Dies könnte für die Beziehungen Chinas mit der Außenwelt weitere Unbekannte bedeuten, und diese externen Veränderungen könnten mit nationalistischen Stimmungen in China interagieren, mit negativen Auswirkungen für Reform und Öffnung.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts vertieft sich die Globalisierung von Wirtschaft, Politik und Kultur, und China reagiert durch stetige Anpassung seiner Haltung auf diesen Trend. Ob dies jedoch glückt, hängt nach wie vor hauptsächlich von Chinas eigener Flexibilität und Adaptionsfähigkeit ab. Ein mögliches Ergebnis könnte auch ein kommender Konflikt zwischen Chinas Wandlung und der Globalisierung sein.
Obwohl Chinas Reformgeschichte nicht arm ist an positiven Überraschungen und geglückten Schwenks in Krisensitautionen, ist das Platzen der auf die “New Deal”-Politik gesetzten Hoffnungen der Intellektuellen vor 10 Jahren eine Warnung vor Illusionen in Bezug auf die Zukunft, die man besser etwas nüchterner sehen sollte. Erfahren die oben beschriebenen acht Tendenzen keine Veränderung, dann kann man Chinas Zukunft zumindest nicht so optimistisch entgegensehen, wie es die Welt tut.