Rezepte gegen Wenzhous Krise

Von Xu Jin 徐瑾. Originalartikel: ftchinese.com.

Übersetzung:

Wenzhou gerät erneut ins Fadenkreuz allgemeiner Kritik

Mit der Fluchtwelle Wenzhouer Unternehmer und dem Wenzhou-Besuch von Chinas Premier Wen Jiabao hat während der freien Tage zum Chinesischen Nationalfeiertag die Aufmerksamkeit für die private Hochzins-Kreditvergabe in Wenzhou einen Höhepunkt erreicht. Nach einer Inspektion äußerte Wen Jiabao dort: “Die Basiswerte der Wirtschaft von Wenzhou sind gut, die meisten Unternehmen in Wenzhou wirtschaften gut. Man muss die Überwachung der privaten Kreditvergabe verstärken, sie in eine offizielle Form überführen, in geregelter Weise entwickeln und ihre positive Funktion zum Tragen bringen.

Man muss nach Kräften das Finanzsystem neuordnen und wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung der Tendenz zur Hochzins-Kreditvergabe ergreifen. Man muss auf der Basis der Gesetze die illegale Finanzierung bekämpfen und die Probleme der gegenseitigen Garantieleistung und des Reißens der Finanzierungskette zwischen den Unternehmen angemessen regeln. Man muß nach Kräften eine Früherkennung und Frühbehandlung gewährleisten, um einer Ausbreitung der Risiken vorzubeugen und das regionale Risiko einzudämmen.“

Darauf folgten ständig Nachrichten über Maßnahmebündel seitens aller Regierungsebenen zur Marktrettung. Es gab sogar Meldungen, dass sich Wenzhou um einen Antrag bei der Staatsbank zur Refinanzierung bemühte, um die Lage zu beruhigen. Wie zu verhindern sei, dass die Finanzierungsketten zwischen den kleinen und mittleren Unternehmen reißen, und wie die private Kreditvergabe zu regulieren sei, das wurden Schwerpunkte des Interesses in der Folgephase.

Vom Teil kann man auf das Ganze schließen. Das Kapital von Wenzhou ist schon immer Vorläufer der Gesamtentwicklung in China gewesen. Das spiegelt sich nun wieder in der rasanten Entwicklung der privaten Kreditvergabe zuerst in einem abgelegenen Winkel, und die derzeitige regional begrenzte Panik ist vielleicht nur das Vorspiel für eine zukünftige landesweite Situation.

Es gibt bereits einige Recherchen über die Gründe für die grassierende private Kreditvergabe. Ein Faktor, der nach wie vor wesentlich dazu beiträgt ist die besondere „Zweigleisigkeit“ des chinesischen Kreditvergabesystems: Auf der einen Seite streichen die systeminternen Unternehmen, vornehmlich die Staatsunternehmen, ohne Mühe den systembedingten Profit ein, sie kommen langfristig in den Genuss billigen Geldes. Auf der anderen Seite leiden die Unternehmen, die außerhalb des Systems stehen, hauptsächlich die kleinen und mittleren Unternehmen, ständig unter Liquiditätsmangel.

Eine akute Nachfrage und auf der anderen Seite die mißliche Situation fehlender Anlagemöglichkeiten für privates Kapital kommen zusammen und generieren naturgemäß alle möglichen Grauzonen außerhalb des Systems. Eine davon ist die Hochzins-Kreditvergabe. Jede Art von Diskriminierung drückt sich auf ökonomischer Ebene immer bei den Preisen aus. Statistiken der People’s Bank of China zufolge ist der Mischzinssatz unter den Bürgern der Stadt Wenzhou seit diesem Jahr immer mehr in die Höhe gegangen, er erreicht annähernd 25%, und in den Medien war sogar von einem Jahreszinssatz von 180% die Rede.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Diese seltsam anmutende Situation ist nichts weiter als das notwendige Resultat von finanzieller Repression. Diese „finanzielle Repression“ ist nichts anderes als der häufige Beschluss verschiedenster Reglementierungsmaßnahmen in überregulierten Schwellenländern. So wird der offizielle Zinssatz auf einem übertrieben niedrigen Niveau belassen und die internationalen Kapitalflüsse werden kontrolliert, was im Ergebnis zu einem rückständigen Bankensystem, farblosen Finanzprodukten, einem zu niedrigen Nominalzins, Kreditquoten und einer hohen Sparrate führt.

In sich entwickelnden Wirtschaftssystemen ist finanzielle Repression gang und gäbe. In einem solchen System sind die Gläubiger naturgemäß die Hauptprofiteure, also diejenigen, die an Finanzmittel kommen, also oft die Regierung und die mit ihr verbundenen Unternehmen. Gleichzeitig ist der Finanzsektor die Stütze der wirtschaftlichen Entwicklung. So ein System wird also der Vitalität der Mehrheit der Unternehmen Schaden zufügen und langfristig unweigerlich die wirtschafliche Entwicklung hemmen.

Konkret auf die Situation Chinas bezogen, ist die derzeitige Hochzinsparty ein von einem deformierten System hervorgebrachtes unvermeidbares Phänomen. Das Wenzhouer Kapital war immer schon höchst aktiv, es ist überall in Erscheinung getreten, vom Immobilien- und Kohle-Markt bis zum Kapitalmarkt, im Inneren Chinas wie im Ausland. Doch die Änderungen in der Politik der letzten Jahre haben zu fehlenden Anlagemöglichkeiten für diese Gelder geführt, so dass sie den Weg der privaten Kreditvergabe beschritten haben, um Profit zu erzielen.

An sich ist an der privaten Kreditvergabe nichts auszusetzen, und Hochzinskredite kann man als ein nachvollziehbares Marktsubstitutionsverhalten in einer Situation administrativer Repression ansehen. Dies bildet aber kein moralisches Argument, dass der Staat als Retter auftreten muss. Deswegen ist der Verfasser nicht dafür, dass der Staat mit der Begründung einer „Stabilisierung der Lage“ seine helfende Hand ausstreckt.

Erstens gehören Hochzinskredite und die private Kreditvergabe zum Marktverhalten, und ob Gewinnne gemacht oder Verluste eingefahren werden und ob der Vertrag, den beide Seiten eingegangen sind, ausgeführt wird oder nicht, all das liegt auf keinen Fall im Verantwortungsbereich der Politik. Wenn der Staat aus der Erwägung negativer externer Effekte heraus hilft, dann ist das dem Steuerzahler gegenüber ungerecht, der Staat könnte damit sogar in den Verdacht der Rettung von Interessengruppen kommen.

Zweitens ist der aktuelle Fall Wenzhou zwar dringend, aber er erreicht keinesfalls die Dringlichkeitsstufe von „too big to fail“. Die historische Erfahrung Chinas zeigt, dass regionale Krisen durchaus nicht immer auf die nationale Gesamtlage durchschlagen. Hainan in den 90er Jahren ist ein Beispiel.

Blasen platzen auf ihrem Höhepunkt. Wie verbreitet ist die private Kreditvergabe in Wenzhou? Nach offiziellen Zahlen aus Wenzhou hat das Volumen der privaten Kreditvergabe bereits 120 Mrd RMB übertroffen. Dabei verschlägt einem das Ausmaß der Beteiligung der Bevölkerung die Sprache. Einem Bericht des Wenzhou-Büros der People’s Bank of China zufolge waren im ersten Halbjahr 2011 89% der Haushalte bzw. Individualpersonen und 59,67% der Unternehmen an der privaten Kreditvergabe beteiligt. Das zeigt, dass die Redensart “Offizielle und Private – alle verleihen Geld” nicht übertrieben ist. Die Krise Wenzhous ist nichts anderes als ein extremes Resultat seiner hochgradigen Verwicklung in die private Kreditvergabe, mit der die anderer Regionen kaum vergleichbar ist. Ein entsprechender Bericht der CICC (China International Capital Corporation Limited) zeigt, dass das Volumen von Chinas privater Kreditvergabe Mitte 2011 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 38% gestiegen war, es beläuft sich auf etwa 3,8 Billionen RMB. Dieser Schätzung zufolge macht dieser Betrag nur 7% der Kredite des gesamten chinesischen Bankensystems aus, es gibt also keinen Grund zu übertriebener Panik. Die Märkte könnten überreagiert haben.

Zuletzt: Wenn die Reglementierung ein Grund für das Florieren der Hochzins-Kreditvergabe ist, dann sind noch mehr administrative Maßnahmen zur Stärkung des Staatsarmes beim Eingreifen ins Wirtschaftssystem nichts als eine Verschärfung des Problems, und führen in der Folge zu einer noch größeren Trägheit des Reglementierungssystems. Seit langem besteht eine derartige nichtmarktwirschaftliche Dejustierung zwischen der Allokation von Finanzressourcen und dem Beitrag zur Wirtschaft; es würde naturgemäß zu Korrekturmaßnahmen aller Arten führen. Den eigentlichen Kern des Problems zu ignorieren ist keine wirkliche politische Lösung.

Mit Notmaßnahmen zur Stabilitätssicherung wird zwar das Geschwür an der Oberfläche fürs Erste gestoppt, doch die innere Krankheit könnte dann die lebenswichtigen Organe angreifen. Was im Augenblick zu tun ist: kurzfristig kann man über eine gezielte Lockerung für die kleinen und mittleren Unternehmen der Region nachdenken, dann aber sollte man die derzeitige restriktive Geldpolitik überdenken, besonders angesichts des sich immer weiter veschlechternden äußeren Umfelds. Man sollte insbesondere den Doppelhieb einer Senkung des Mindestreservesatzes bei gleichzeitiger Zinserhöhung in Erwägung ziehen.

Zuletzt sollte man die marktwirtschaftliche Zinsbildung und die Öffnung der Finanzmärkte nicht weiter verschleppen sondern mutig und entschlossen umsetzen. Andernfalls wird man, selbst wenn die unmittelbare Lage fürs Erste entschärft wird, in der Zukunft einen Preis dafür zahlen müssen.