Von Liu Shengjun 刘胜军 (CEIBS Lujiazui International Finance Research Center). Originalartikel: ftchinese.com vom 23.09.2011.
Übersetzung:
Kürzlich ließ sich die People’s Daily (Renmin Ribao) zu einer Debatte mit dem Chefredakteur der chinesischen Ausgabe des Forbes Magazine herab. Es ging um den 2009 von Forbes veröffentlichten „Forbes Tax Misery Index“, auf dem China den zweiten Platz einnahm.
Die People’s Daily begründet ihre Zweifel am Ergebnis des Forbes-Index mit dem Verweis auf den Unterschied zwischen nominellem und realem Steuersatz und den sehr begrenzten Bereich der Anwendung des maximalen Steuersatzes. Außerdem weist sie darauf hin, dass gemessen am internationalen Standard „macro tax burden“, die Steuerlast in China durchaus nicht hoch sei.
Der „Forbes Tax Misery Index“ umfasst jedoch auch die gefühlte Belastung des Steuerzahlers durch die Besteuerung. Der Leidensgrad richtet sich nicht nur nach der tatsächlichen Steuerhöhe, sondern noch mehr nach der Verwendung des Steueraufkommens. Einfach ausgedrückt, „wenn man dem Volk etwas wegnimmt, um ihm es wieder zu geben“ , dann ist die Unzufriedenheit geringer als „wenn man dem Volk etwas wegnimmt, um einer Minderheit etwas zu geben“.
Der Leser ist der Auffassung, dass sich die öffentliche Unzufriedenheit nicht nur auf die Steuerlast richtet, sondern durch einige komplexe strukturelle Variablen verursacht wird.
Als Erstes ist die Schieflage des Steuersystems zu nennen. Beispiel Einkommenssteuer: die white-collar-Schicht stellt das Gros der Steuerzahler, während die Unternehmer und die Reichen auf einfache Weise – über den Bezug eines niedrigen Gehalts und die Übernahme privater Haushaltsausgaben in die Geschäftsbücher – Steuern vermeiden.
In den durch astronomische Immobilienpreise gekennzeichneten Primärstädten ist das Phänomen der Verarmung der white-collar-Schicht bereits sehr ausgeprägt.
Wenn bei einem Gini Koeffizient von ca. 0.5 (entspricht dem der USA) immer noch die Einführung einer Erbschafts- und Kapitalerstragssteuer verschleppt wird, dann bedeutet das eindeutig, dass eine weitere dramatische Vergrößerung der Einkommenskluft in Kauf genommen wird wird.
Zweitens ist das Problem der hohen Immobilienpreise in Wirklichkeit eine verkappte Steuer. Der Immobiliensektor hat Chinas Wirtschaft als Geisel genommen. Die vom Immobiliensektor betroffene Industrie macht bereits 30% des BIP aus, und die Einnahmen aus Landverkäufen wurden zur wichtigsten Geldquelle der Lokalregierungen, in einigen Städten machen sie schon etwa die Hälfte der Einnahmen aus. In den meisten Ländern ist privates Landeigentum der wichtigste Besitz des Bürgers, doch in China hat das System des Staatseigentums an Boden den Lokalregierungen eine nie versiegende Finanzquelle beschert. Kauft die Bevölkerung Wohnungen, dann erhält sie nur ein Landnutzungsrecht von maximal 70 Jahren. Das Verhältnis zwischen Wohnungspreisen und Jahreseinkommen liegt in den Städten der ersten Riege bereits bei über 10, teilweise sogar bei einem Mehrfachen davon. Aus der white-collar Schicht wurden damit “Wohnungssklaven”.
Drittens, die Ausbeutung der Allgemeinheit durch die Monopolstellung der zentralgelenkten Staatsunternehmen (Anm. 1). Ihr Monopol erstreckt sich auf Bereiche wie Mineralöl, Elektrizität, Kommunikation und Finanzwesen, also Bereiche, die mit den Lebenshaltungskosten der Menschen zu tun haben. Einmal beeinträchtigen Monopole den Wettbewerb, was hohe Preise bewirkt, die den Wohlstand der Leute untergraben. Außerdem ist aufgrund der problematischen Firmenkontrolle das Management bei Staatsunternehmen zwangsläufig wenig effektiv. Eine Studie des Unirule Institute of Economics ergab für 2001-2008 einen Gesamtgewinn aller Staatsunternehmen und Unternehmen mit staatlicher Kontrollbeteiligung von 4,91748 Billionen RMB, eine durchschnittliche Nettovermögensrendite von 7,68%. Diese Gewinne resultieren jedoch zu einem wesentlichen Teil aus diversen Formen staatlicher Vorzugspolitik (Subventionen, Kapitalkosten, Boden- und Ressourcen-Pacht). Wenn man aber auf die echten Kosten zurückgeht und die üppigen Gewinne aufgrund der Monopolstellung abzieht, dann kommt man auf eine durchschnittliche Nettovermögensrendite von -6,2%. Außerdem werden die Gewinne der Staatsunternehmen entgegen der Aussage des Vizedirektors der SASAC, Shao Ning, nicht zu „Sparguthaben des ganzen Volkes“, sondern füllen die Taschen von einigen wenigen. 2008 machte die Anzahl der Angestellten in Monopolbereichen 8% aller Erwerbstätigen aus, ihr Einkommensanteil jedoch betrug 50%. Die Durchschnittsgehälter der Branchen mit den höchsten Werten und die der Branchen mit den niedrigsten klaffen um den Faktor 15 auseinander. Das ist ein Weltrekord. Die zentralgelenkten Staatsunternehmen sind zu einer wichtigen Ursache der Ungerechtigkeit in der gesellschaftlichen Verteilung geworden.
An vierter Stelle ist die Undurchsichtigkeit des Rechtswesens zu nennen, die zusätzlich zur Ausplünderung der Bevölkerung beiträgt. Aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit der Justiz und BIP-Hörigkeit der Lokalregierungen werden unter dem Diktat des Profits ständig Gesetze flexibel und nur selektiv umgesetzt. Dies führte dazu, dass die Umweltverschmutzung außer Kontrolle geraten ist und bei der Lebensmittelsicherheit alle Dämme brachen. All diese Faktoren werden über die Beeinträchtigung der Gesundheit der Menschen deren Lebenskosten erhöhen. In der Wirtschaftwissenschaft nennt man so etwas „externe Effekte“: Die Unternehmen wälzen ihre Produktionskosten per Umweltverschmutzung auf die Allgemeinheit ab. Ein weiteres prominentes Problem sind die mangelhaften Investitionen der Unternehmen in den Arbeitsschutz , die in großem Umfang Berufskrankheiten (wie z.B. Staublunge) verursachen. Am Ende reichen dem Arbeiter seine über Jahre hart erarbeiteten Ersparnisse nicht aus, um medizinische Behandlung zu bekommen. Auch das ist eine Plünderung der Interessen derArbeiter.
Immobilienpreise, Staatsunternehmen, Rechtssystem, all diese Probleme bedeuten eine verkappte Besteuerung der Allgemeinheit, sie vergrößern ihre Lebenshaltungskosten und mindern ihr Realeinkommen. Außerdem steht hinter all diesen Phänomenen eine Ungleichverteilung von Vermögen, was eine rapide Ausweitung der Umverteilung des gesellschaftlichen Einkommens auf eine ungerechte Art und Weise bewirkt. Laut einem Bericht der Weltbank verfügt 1% der Familien Chinas über 41,4 % des Gesamtvermögens, der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Nationaleinkommen hingegen ist von 65% im Jahr 1980 auf 39,7% in 2007 gesunken und liegt damit weit unter dem globalen Durchschnitt.
Das Problem verschärft sich noch, betrachtet man es im Hinblick auf die Verwendung des Steueraufkommens. Chinas Finanzeinkommen, das Einkommen aus Landvergabe und die Ressourcen der Zentralen Staatsunternehmen kann man nur als üppig bezeichnen, aber all das wird nur für die Alimentierung von Leuten (im aufgeblähten Beamtenapparat) und für Investitionen eingesetzt. Das Ergebnis sind forcierte Großinvestitionen in Bahn, Straßen und Flughäfen, ein fast ausser Kontrolle geratener “dreifacher Konsum auf Staatskosten” (Dienstreisen, Dienstwagen, Bewirtungsausgaben), sowie dicht aufeinander folgende Großprojekte (Olympiade, Expo, Weltgartenausstellung, Asienspiele, Universiade). Überall werben die Lokalregierungen Investitionen an, um redundante und überdimensionierte Projekte durchzupeitschen. Wenn es aber um die Erziehung, die Sozial– und Krankenversicherung und andere Schlüsselbereiche für das Leben der Menschen geht, dann reicht das Geld vorne und hinten nicht. 2006 betrug der Anteil der Verwaltungsausgaben an den Staatsausgaben in China 18,73%, im Vergleich zu 2,38% in Japan, 4,19% in England, 5,06% in Südkorea, 6,5% in Frankreich, 7,1% in Kanada und 9,9% in den USA. Im Gegensatz dazu stellen in vielen Ländern der Welt die Sozialausgaben den größten Posten innerhalb der Finanzausgaben, sie liegen in der Regel über 30%, in Deutschland erreichen sie sogar 71,49%.
Chinesen, wer hat euer Glück beschädigt?
Anm.1
yangqi 央企, Staatsunternehmen unter der Kontrolle des Staatsrats und der Organisationsabteilung der Partei.